Ein Interview in Jatros Neurologie/Psychiatrie 2019 zur ESCAP 2019 und Situation der KJP, Universimed Verlag – JATROS, 09.05.2019
Interview-Partner: Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz
Interview geführt von: Dr. Gabriele Senti
Von 30. Juni bis 2. Juli wird der internationale Kongress der ESCAP, der European Society for Child and Adolescent Psychiatry, nach 44 Jahren erstmals wieder in Wien stattfinden. Kongresspräsident Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz berichtet im Gespräch über Details zum Kongress und über die Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich.
Herr Professor Karwautz, können Sie uns schon Einzelheiten zum ESCAPKongress verraten?
A. Karwautz: Das Interesse am Kongress ist erfreulicherweise groß. Wir erwarten 1500 Anmeldungen und verzeichnen bereits jetzt Teilnehmer aus 47 Ländern. Sie werden aus Nord- und Südamerika, Europa und sogar Asien anreisen. Es ist uns wichtig, mit der Hofburg dem Kongress auch den entsprechenden Rahmen zu geben, der Wien als Austragungsort und Österreich als Gastgeberland repräsentiert.
Was können Sie uns über die Inhalte des Kongresses berichten?
A. Karwautz: An drei vollen Kongresstagen werden renommierte Hauptredner und State-of-the-Art-Sprecher alle Themen abdecken, die für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wichtig sind: von der biologischen und klinischen Psychiatrie bis hin zur Psychotherapie.
Auf einige Punkte möchte ich besonders hinweisen: Dr. Alfried Längle, Chef der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, wird zu uns sprechen. Er vertritt die 3. Wiener Psychotherapeutische Schule, und es war mir sehr wichtig, dass diese im Programm ihren Platz findet. Dr. Herwig Czech wird sich bei der Tagung in seinem Vortrag der Biografie von Professor Asperger und seiner Rolle während des Naziregimes widmen. Professor Asperger war ja in Wien als Kinderarzt tätig, das nach ihm benannte Asperger-Syndrom ist in die internationalen Klassifikationen eingegangen. Trotz seiner Leistungen muss man sich wissenschaftlich das Recht herausnehmen, seine historische Rolle nochmals zu beleuchten. Wo, wenn nicht bei dieser Tagung in Wien, wäre das angebracht? Dieses Thema wird sicher sehr kontrovers diskutiert werden – dennoch wollen wir uns dieser Herausforderung stellen. Schließlich werden wir auch dem Thema der Suizidprävention genügend Raum geben.
Es ist Ihnen auch gelungen, Prof. Otto Kernberg zum Kongress zu holen.
A. Karwautz: Seine Zusage war für uns eine besondere Freude! Professor Kernberg wird über die Zukunft der Psychoanalyse in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sprechen. In Wien, der Wiege der Psychoanalyse, ist ein Vortrag von Otto Kernberg als direktem „Abkömmling“ von Sigmund Freud ein besonderes Highlight. Dass er als vertriebenes Kind jüdischer Herkunft zum heutigen Wien keine Berührungsängste hat, ist sehr erfreulich und alles andere als selbstverständlich.
Was unterscheidet die Kinder- und Jugendpsychiatrie von der Erwachsenenpsychiatrie?
A. Karwautz: Darüber könnte ich jetzt stundenlang sprechen! Das Gute an der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist, dass die Chancen, etwas zu bewirken, noch größer sind. Die Situation ist meist noch nicht so verfahren wie bei den Erwachsenen und die Vorgeschichten der Patienten sind noch relativ kurz. Bei manchen aber trotzdem viel zu lange, und immer ist da sehr viel schon vorher passiert. An diesem Punkt sollte man schon sehr früh ansetzen. Suizidalität ist so ein Thema, hier greifen wir ein, wenn es eigentlich schon fast zu spät ist. Im Prinzip geht es um Prävention.
Darauf hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie aber nur beschränkt Einfluss …
A. Karwautz: Das ist leider richtig! Wir kennen die Theorie und wissen, was gemacht werden sollte, aber haben keine Zugriffsmöglichkeit. Wir sind hier in der Klinik tätig bei den Erkrankten, aber nicht bei den Kindern und Jugendlichen in Sachen Prävention draußen. Dort müssen andere Berufsgruppen agieren: Schulen, Schulbehörden, Schulärzte, Sozialarbeiter und natürlich die Politik sind hier gefragt.
In den meisten Fällen findet sich aber niemand, der die Verantwortung für ein Kind mit einer psychischen Erkrankung übernimmt. Die Eltern sind dazu in vielen Fällen nicht in der Lage. Die Schulen sind damit aber genauso überfordert und verweisen wiederum zurück auf die Pflichten der Eltern. Die Schulpsychologen, die Schulärzte sind trotz allem gute Ansprechpartner, um den Kindern Unterstützung zu geben. Sie können sehr niederschwellig und lange vor Ausbruch einer Erkrankung agieren.
Wie gestaltet sich die Transition Ihrer Patienten?
A. Karwautz: Die Lage der jungen Erwachsenen ist sehr schwierig. Der Sprung in die Erwachsenenwelt ist einfach sehr groß: Wir Jugendpsychiater sind sehr nahe an unseren Patienten und Patientinnen und arbeiten sehr stark an der Beziehungsebene, auch ambulant. Viele unserer Patienten und Patientinnen kommen einbis zweimal pro Woche und wissen, sie haben bei uns jederzeit einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin. Trotz Übergangsphase tolerieren die meisten die Umstellung dann aber nicht, wenn zum Beispiel der Arzt dann nur noch alle fünf Wochen Zeit für sie hat. Es ist also wichtig, die Übergabe frühzeitig und möglichst gut zu planen, oft auch mit kreativen Lösungen, beispielsweise Akuttermine in der Erwachsenenpsychiatrie, aber doch auch noch ein paar Termine beim Jugendpsychiater.
Im Krankenhaus Hietzing gibt es jetzt eine Initiative zum Aufbau einer Transitionsstation. Man hat erkannt, dass es von Vorteil wäre, die 16- bis 25-jährigen in einer Einheit zu behandeln. Die Grenze bei 18 Jahren zu ziehen ist ja eine rein künstliche Trennung. 23 oder 25 wäre da sinnvoller.
Wer setzt sich für die Anliegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein?
A. Karwautz: Das Ministerium für Gesundheit, die GÖG sind hier beispielsweise tätig. Sie initiieren hier immer wieder Projekte und versuchen, die unterschiedlichen Player an einen Tisch zu bringen. Problematisch ist dann oft ein zwischenzeitlicher Regierungswechsel. Da ändern sich die Prioritäten und eine Umsetzung kommt nicht mehr zustande.
Vor 20 Jahren haben wir noch gejammert, dass wir als Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht wahrgenommen werden, und niemand die Mängel hier bemerkt. Unsere Kinder wurden nicht als Menschen gesehen, denen etwas Schreckliches widerfahren ist und die Hilfe benötigen, sondern als auffällig, tobend oder störend. Das Verständnis für psychische Erkrankungen war sehr eingeschränkt.
Das bessert sich jetzt. Die seelische Gesundheit von Kindern ist ein Thema, das vor allem in den letzten Jahren immer öfter medial aufgegriffen wurde. Wir haben in den letzten 10 Jahren in der Österreichischen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie viele Initiativen gesetzt und auch versucht, die Sachverhalte medial an- und auszusprechen, zu sagen, wo es an Unterstützung fehlt, wo man mit Verbesserungen ansetzen könnte.
Hier am AKH wird nun die alte Klinik nach 40 Jahren abgerissen, ein neues Gebäude errichtet. Auch das Personal soll aufgestockt werden. Das ist besonders wichtig! Die Psychiatrie braucht keine speziellen Behandlungsräume, Maschinen oder aufwendigen Untersuchungsmethoden. Wir brauchen qualifizierte Menschen, und davon ausreichend. So ein Team muss wachsen – das läuft bei uns zum Glück recht gut!
Sie machen sich also um den Nachwuchs keine Sorgen?
A. Karwautz: Meiner Einschätzung nach ist das Interesse der Studierenden an der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich größer als beispielsweise in Deutschland oder der Schweiz. In der Schweiz ist bei Umfragen unter Studierenden im Abstand von 10 Jahren das Interesse an psychiatrischen Fachrichtungen von 14 auf 4 Prozent gesunken. Ich hoffe, dass das bei uns nicht auch passieren wird.
Leider wird durch die Aufnahmeprüfung an den medizinischen Universitäten eine Selektion der Studierenden basierend auf Wissen und kognitiven Fähigkeiten, zum Teil aber auch Persönlichkeitsmerkmalen vorgenommen. Gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie brauchen wir aber unter den Ärzten und Ärztinnen unterschiedlichste Persönlichkeiten, die auch auf unsere unterschiedlichen Patienten und Patientinnen gut eingehen können. Ein drogenabhängiger Patient wird zu einem distanzierten Arzt in „Hemd und Krawatte“ nur schwer Vertrauen aufbauen können. Auch ein bestimmter Dialekt oder Sprachstil kann ausschlaggebend für das Gelingen des Beziehungsaufbau sein. Werden ausschließlich gepflegt auftretende, leistungswillige Kollegen und Kolleginnen zum Medizinstudium aufgenommen, verlieren wir für die Psychiatrie im schlimmsten Fall die Vielfalt, die wir für unsere Patienten und Patientinnen brauchen.
Wie erleben Sie die Situation am AKH Wien?
A. Karwautz: Wir haben hier zum Glück noch immer eine große Auswahl und Bandbreite an qualifizierten Kollegen und Kolleginnen. An unserer Klinik arbeiten beispielsweise im Moment vier Mediziner mit einem Doppelstudium in Psychologie. Das sind hochqualifizierte Leute, die zu uns kommen. Früher war das schwieriger. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war kein Prüfungsfach, es sind daher die Studenten und Studentinnen nicht automatisch an unsere Klinik gekommen. Mit der neuen Studienverordnung wurde die Zahl der kinderpsychiatrischen Pflichtveranstaltungen 2004 von 4 auf 30 Stunden erhöht und so die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgewertet. Wir sind nun viel näher bei den Studierenden, können ihnen vermitteln, wie wir arbeiten. Durch Diplomarbeiten oder das Klinisch-Praktische Jahr, KPJ, kommen auch oft sehr gute Leute zu uns, und manche bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch!